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>>der ausgestorbenen Medien ein weiteres Exemplar
hinzufügt - 
allerdings
>>eins, das es so nie gegeben hat. 

>Tut leid - so gesagt, ist das falsch. Es ist _keine_
neue Erfindung. 

Hab ich schon häefiger gehoert und zunäechst ebenso
beauptet.

Es stimmt und stimmt wiederum  nicht. 
Video on Vinyl wird zur hochinteressante Diskussion
die sich bald auch genauer in Bruce Sterling's Idee
zur im Netz entstehenden Kulturgeschichte der TOTEN
MEDIEN einschreiben wird.
(spaeter mehr linkisches dazu)

Ich schreibe mir zur Zeit an diesem Thema die Finger
wund weil ich vor einem Jahr zum begeisterten Sammler
eines 70er Jahre Schalplattenvideoformats(!)  geworden
bin.  Deshalb erlaube ich mir hier etwas ausführlicher
auf das Thema einzugehen. Zunaechst etwas zu Gebhard
Sengmüllers Projekt: 
Natuerlich hat es schon einige Plattenmedien gegeben
die Videobilder reproduzieren konnten. Gebhard
Sengmüller's Technologie -die sich mittlerweile schon
mehr als drei Jahre in Rotation befindet- ist aber die
einzige die tatsächlich auf einem gewöhnlichen
Plattenspieler funktioniert.
Er war damit so erfolgreich weil es sich um ein
wirklich originelles Experiment handelt, bei dem sich
eine digitale Technologie in eine analoge einnistet
und dort einen neuen Nabelfortsatz bildet. Was seine
Effizienz anbelangt, so bleibt diese Technologie
völlig unberührt, ja unbeeindruckt gegenüber seiner
Hi-Resolution-Videoumwelt.  (Ähnlich verhielt sich
Pixelvision und ebenso die Netcams)
Aber diese Bilder sind ins Vinyl geritzt und Vinyl
bleibt mit großer Garantie ein andauerder Kult.
Und weil es durch diesen Turntabulismus um so mehr
günstge Plattenpressen gibt macht VinylVideo auch so
viel Spaß: Jeder kann sein eigenes knisterndes
Schwarzweiß Video  produzieren lassen und es dann
selbst (kaputt)scratchen!

Es läßt sich wunderbar darüber streiten, wie man die
um das Projekt herumgesponnende Medienphilosophie
bewerten möchte. Denn diese besteht aus so etwas wie
einem medienarcheologischen Mummenschanz. Neben dem
vom VinylVideo wohl nur halb ernstgemeinten
Markenartikel-Spiel in modisch-stilechter 50erJahre
Werbeaesthetik, belächeln ihre Macher einerseits die
1923 erstmals erfundene Schallplattenaufzeichnung von
Videosignalen, weil diese zwar aufzeichnen konnten
aber nicht abspielen. Dann behaupten sie aber,
VinylVideo sei das erste Medium welches Video
tatsächlich vom einer Schallplatte abspielen kann. 
An dieser Stelle koennte ein Medienhistoriker mit
hocherhobenen Zeigefinger wedeln und behaupten das
waere  eine glatte Luege. Und genau darin liegt der
Witz: 
Wenn hier ein analoges Medium mit digitaler
Technologie in einem Gewaltakt zu einem Resultat
gezungen wird, daß analog sehr viel besser zu
realisieren ist, dann geht es hier um einen bereits
bekannten Generationskonflikt der Technologien.
Goethe spricht in den Phongraphen - Der Phonograph
flüstert’s in den Computer.
Da das Projekt VinylVideo nicht in der
Technikgeschichte, aber in der Kunstgeschichte bereits
seinen Platz gefunden hat, sollte man den
hartgesottenen Tüftlern ihre Scherze gönnen.

Das System funktioniert mit einem digitalen Konverter
der aus dem Audiosignal der Schallplatte ein
Videosignal zaubert. Ich war vor einiger Zeit bei der
Präsentation von The Thing NY, mitunter war da ein
Haufen gierig herumlungernder DJ's und VJ's aus New
York's Electronica  Miniaturszene (ein Dorf!) Inmitten
allgemeiner Begeisterung eröffnete Sengmüller
schließlich, daß man die Dinger leider nicht scratchen
kann, aber es gäbe -zum Trost- eine Art  "DJ mode":
Nichtkonvertierte Signale sehen im Fernsehmonitor
alledings so aus wie oszillographen-ähnliche 
Schlangenlinien. Die kann man zwar scratchen,  aber
dann zittern nur schwarzweiße Striche. Eine gewisse
Enttäuschung war da schon abzulesen in den vielen DJ
Kindleräuglein. 
Doch davon unbetrübt hat eine internationale Schar von
begeisterten Anhaengern eine handvoll erlesener
Videoarbeiten produziert. Ein großer Teil kam von
Netzkünstlern, denn fuer die war dieses Format
geradezu ideal: Viele Macher sind des streamens
überdrüssig gewordene Ex-Videokuenstler  (jetzt
Flashkinder) und andere Schnellzeitbastler die sowieso
in ihren RealPlayern lieber Schwarzweiss als Farbe
sehen.


Frank Ablinger schreibt:
>In
den frühen 70'ern hat Philips mit exakt sowas
experimentiert, es 
exisiert
ein lauffähiger Prototyp. Die Platte konnte nur "nass"
laufen, Staub 
und
Kratzer beeinträchtigten die Qualität des
(schwarzweiss-) Bildes 
erheblich.
Diese Information hab' ich aus alten Exemplaren von
"Hobby - das 
Magazin
der Technik".
>Da unmittelbar danach die Laserdisc als Konkurrenz
zunächst für Ton,
später für Bild aufgekommen ist, war dem Prototypen
leider kein Leben 
als
Produkt beschieden...
>

Hochinteressant! Auch was für die DEAD MEDIA Sammlung.
Das Spiel ging aber noch weiter:
Denn in den späten 70ern gab es dann das CED System.
Capacitance Electronic Disc.
Das war - jetzt wird's spannend- Video in *Farbe* und
Stereo auf Schalplatte, abgespielt mit einer
hochempfindlichen Diamantnadel!!  CEDs waren nur 5 - 6
Jahre in den USA populaer (sowie Canada und England)
und wurden sehr bald von den ersten Laserdisk Formaten
überholt.
Das ganze System ist etwas  komplizierter als ein
Plattenspieler, denn die Rillen verlaufenen horizontal
in Bergen und Taelern (ebenso die erste Edison Platte)
und sind sehr viel feiner als die auf einer
gewoehnlichen Schallplatte.  Da ganze funktioniert
auch nur, weil der Plattenteller mit einem direct
drive(!) mit 450rpm losfetzt. 
Das eigentliche Geheimnis ist aber die Kondensator
("Capacitance")-Technik mit der man in analogen
Videotagen schon soviel Information aus einer
Plattenrille herausholen konnte um ein VHS
überbietendes Videobild in Farbe zu generieren. Die
Schallplatte besitzt eine Kohleschicht mit statischer
Aufladung. An der Diamatennadel haftet eine Elektrode
aus Titanium. Durch die vertikale Zackenschrift
enstehen sich staendig veraendernde Aufladungen welche
ein kombiniertes Video/Audio Signal produzieren.
Dieses wird durch einen prä-historischen Frame-buffer
geschickt und dann zu einem Videobild konvertiert.
CED Disks sind hochempfindlich und deshalb in eine
große Plastikhuelle eingeschlossen, die so aussieht
wie eine riesengroße Floppydisk.
Meineswissens gab es CEDs nie in Deutschland, 
ebensowenig  wie die legendaeren PIXELVISION 2000
Kameras die Florian Cramer erwähnt. 

(Doch moechte ich hinzufügen daß von den zahlreichen
Pixelvideomacher in den 80ern bedeutendere Werke
produziert wurden als vom quirligen
Baltimore-Prankster tENTATIVE!)

Der Science-Fiction Autor Bruce Sterling hat zusammen
mit Richard Kadrey ein Archiv ueber tote Medien
angelegt. Die Webseite ist auf den ersten Blick etwas
technikeralbern, ihr Inhalt aber um so spannender fuer
diejenigen, die sich fuer irrwitzige, vergessene Bild
und Ton Formate oder tote Computerplattformen
interessieren.

Leider wird dort hauptsaechlich emisg aufgelistet und
noch viel zu wenig refliektiert. ...z.B. koennte dort
vieles über bestimmte “Revivals” oder kuensterische
Appropriationen berichtet werden. Deshalb moechte ich
jeden, der auf diesem Gebiet taetig ist dazu
ermutigen, mal einen Blick auf dieses Archiv zu werfen
und -wem danach ist- sich einzuschreiben und etwas
beizusteuern.

Caspar Stracke

Links:

http://www.deadmedia.org

http://www.vinylvideo.com/

Das CED System vorgestellt von einem absolut
obssesiven Sammler und Ex-CED Hersteller
http://www.cedmagic.com

Das erste Schallplattenvideo system von 1923
http://www.dfm.dircon.co.uk/








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